Welt am Sonntag Dr. Franziska Giffey: "Das Wohl des Kindes muss an erster Stelle stehen"

Das Bild zeigt Dr. Franziska Giffey
Dr. Franziska Giffey© Inga Kjer/photothek.net

Welt am Sonntag: Frau Dr. Giffey, mehrere führende Sozialdemokraten haben bekundet, die SPD würde CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer nie zur Kanzlerin wählen. Wie steht es mit Ihnen?

Dr. Franziska Giffey: Die Frage stellt sich gegenwärtig nicht. Wir haben eine Regierung. Sie hat einen Auftrag, alle Posten sind besetzt. Und wir arbeiten.

Welt am Sonntag: Ist die Koalition mit Angela Merkel geschlossen oder mit der CDU/CSU?

Dr. Franziska Giffey: Natürlich mit der CDU/CSU.

Welt am Sonntag: Gut, aber dann sind die Personen nicht so wichtig?

Dr. Franziska Giffey: Personen sind immer wichtig. Aber eine Frage beantwortet man dann, wenn sie sich stellt. Diese permanenten Debatten über das Fortbestehen der großen Koalition sind nicht hilfreich. Wenn ich mir jeden Tag die Frage stelle, wie lange ich noch zu leben habe, ist das schlecht fürs Gemüt.

Welt am Sonntag: Kommen wir zur SPD. Warum sollte ein Facharbeiter sie heute noch wählen?

Dr. Franziska Giffey: Weil die SPD etwas für die Facharbeiter tut. Die SPD war schon immer die Partei der Arbeit und die Partei der Arbeitenden. Unser Grundsatz ist: Arbeit muss sich lohnen. Deswegen wollen wir auch gerade die Familien stärken, in denen die Eltern arbeiten, aber nur ein kleines Einkommen haben. Das "Starke-Familien-Gesetz" und das "Gute-KiTa-Gesetz" gäbe es ohne die SPD nicht. Für die Kinder etwas zu tun, die wegen der sozialen Lage ihrer Eltern Anspruch auf besondere Förderung haben, ist ein ursozialdemokratisches Anliegen.

Welt am Sonntag: Zwölf Euro Mindestlohn, ein sanktionsfreies Bürgergeld und eine Grundrente für alle sind aber Vorschläge der SPD, die an den Bedürfnissen einstiger Stammwähler vorbeigehen dürften.

Dr. Franziska Giffey: Es geht darum, Menschen zu befähigen und ihnen Unterstützung zu geben, nicht sie dauerhaft im Sozialleistungsbezug zu versorgen. Nur so bleibt der Sozialstaat auch bezahlbar. Ziel ist immer, Menschen aus dieser Abhängigkeit herauszuhelfen. Klar muss aber auch sein, dass jeder Einzelne auch etwas tun muss. Deshalb wollen wir ja auch Mitwirkungspflichten erhalten. Es geht darum, Menschen dabei zu helfen, wieder auf eigenen Beinen stehen zu können.

Welt am Sonntag: Wenn die SPD die Partei der Arbeitenden ist, bedeutet das aber auch: mehr für die, die etwas leisten, als für die, die nur Transfers beziehen.

Dr. Franziska Giffey: Genau das geschieht doch. Gerade durch die genannten Familienleistungen tun wir etwas für die Menschen, die jeden Tag aufstehen und arbeiten gehen. Mit dem neuen Kinderzuschlag erhalten Eltern mit kleinen Einkommen oder - bei größeren Haushalten - auch mit mittleren Einkommen ab Sommer eine vereinfachte Leistung zusätzlich zum Kindergeld plus kostenloses Schulmittagessen, Schülerfahrkarte, Lernförderung und Schulstarterpaket.

Welt am Sonntag: Der Parteienforscher Franz Walter beklagt, in der SPD habe ein diffus kulturelles und rhetorisch kosmopolitisches Linkssein um sich gegriffen, das an den Bedürfnissen der Massen vorbeigeht. Was erwidern Sie ihm?

Dr. Franziska Giffey: Dass er erst einmal verständlicher reden soll. Bei der Aussage verstehen viele schon nicht, was er meint.

Welt am Sonntag: Sie verstehen es doch hoffentlich.

Dr. Franziska Giffey: Wir müssen grundsätzlich deutlicher sagen, für wen wir Politik machen und was wir konkret für wen tun. Als Familienministerin bin ich für 13 Millionen Kinder in Deutschland zuständig. Neun Millionen geht es gut, vier Millionen aber nicht so gut. Zwei Millionen davon sind im Hartz-IV-Bezug, die anderen zwei Millionen sind Kinder von Geringverdienern. Um diese Kinder kümmern wir uns in besonderer Weise.

Welt am Sonntag: Zur Bekämpfung der Kinderarmut haben Sie und Ihr Kollege Hubertus Heil das "Starke-Familien-Gesetz" vorgelegt. Aber selbst Ihr eigenes Haus geht davon aus, dass der Kinderzuschlag auch künftig nur von 35 Prozent der Berechtigten in Anspruch genommen wird. Ist das jetzt der große Wurf?

Dr. Franziska Giffey: Die 35 Prozent sind lediglich eine Orientierungsgröße und ergeben sich aus der bisherigen Inanspruchnahme. Natürlich ist unser Ziel, mehr zu erreichen. Und das werden wir, denn der Kreis der Anspruchsberechtigten wird deutlich ausgeweitet. Nach der alten Regelung sind es 800.000 Anspruchsberechtigte. Mit der Neuregelung werden es zwei Millionen Kinder sein. Mein Ziel ist es, dass möglichst alle den Kinderzuschlag auch tatsächlich beantragen. Es ist eine gesetzliche Leistung, die wir gewähren, auch wenn mehr als 35 Prozent sie nutzen.

Welt am Sonntag: Experten fordern seit Langem eine Kindergrundsicherung, die automatisch gezahlt wird. Sie nicht?

Dr. Franziska Giffey: Eine Kindergrundsicherung für jedes Kind in Deutschland, die alle bisherigen Familienleistungen bündelt und leicht zugänglich macht, ist auch ein langfristiges Ziel der SPD. Aber wir müssen hier Schritt für Schritt vorgehen. Mit dem "Starke-Familien-Gesetz" sorgen wir dafür, dass ab 1. Juli für jedes Kind die Existenzgrundlage gesichert ist. Wir verbessern das Bildungs- und Teilhabepaket, indem wir den Eigenanteil der Eltern zum Mittagessen abschaffen. Wir gewähren Lernförderung künftig nicht erst, wenn ein Kind versetzungsgefährdet ist, sondern wenn es sie braucht. Das habe ich mir schon als Bildungsstadträtin in Neukölln gewünscht. Jetzt kann ich das endlich ändern. Eine darüber hinausgehende Kindergrundsicherung entwickelt man allerdings nicht in einem halben Jahr, sondern man muss erst einmal Fundament und Basis dafür schaffen. Das tun wir gerade.

Welt am Sonntag: An welchen Zeitrahmen denken Sie?

Dr. Franziska Giffey: Zunächst müssen wir definieren, was wir mit Kindergrundsicherung meinen. Wir können nicht einfach pauschal Geldbeträge in die Familien geben. Neben der individuellen Förderung mit Geldleistungen gehört auch die institutionelle Förderung dazu: Kita, Hort, Ganztagsbetreuung. Zudem können wir die Grundsicherung nicht unabhängig vom Elterneinkommen gewähren, denn jedes Kind ist ein Teil seiner Familie und kann nicht losgelöst von ihr betrachtet werden.

Welt am Sonntag: Sie haben sich einen feministischen Shitstorm zugezogen, weil Sie rechtliche Verbesserungen für Väter in Aussicht gestellt haben, die auch nach der Trennung für ihre Kinder da sind. Wer viel Betreuungsleistung erbringt, müsse bei den Unterhaltszahlungen entlastet werden, fordern Sie. Was soll daran falsch sein?

Dr. Franziska Giffey: Ich habe lediglich beschrieben, dass wir einen gesellschaftlichen Wandel beobachten. Immer mehr Väter übernehmen mehr Verantwortung, entscheiden sich für Elternzeit und wollen Partnerschaftlichkeit. Das endet auch nicht unbedingt mit einer Trennung. Unser Rechtssystem berücksichtigt diese Veränderungen aber oft noch nicht. Es folgt noch immer dem klassischen Modell: Einer betreut, der andere zahlt. Wir erleben aber, dass es zunehmend andere Wünsche gibt. Damit müssen wir uns auseinandersetzen.

Welt am Sonntag: Welche Änderungen schweben Ihnen vor?

Dr. Franziska Giffey: Wir sind noch am Anfang unserer Überlegungen. Das Wohl des Kindes muss an erster Stelle stehen. Und wir brauchen einen Weg, der sowohl für Mütter als auch für Väter gangbar ist. Uns geht es darum, getrennte Eltern, die gemeinsam oder allein erziehen, zu unterstützen.

Welt am Sonntag: Wobei "alleinerziehend" es oft nicht mehr trifft, wie Sie selbst sagen.

Dr. Franziska Giffey: Formal ist jede fünfte Familie in Deutschland alleinerziehend. Vor allem Frauen übernehmen dann den Hauptteil der Versorgung und Betreuung der Kinder. Ihnen müssen wir den Rücken stärken. Dennoch erleben wir auch, dass immer mehr Familien das Modell "Gemeinsam getrennt erziehen" für sich als Weg betrachten. Es entspricht auch dem Wunsch der meisten Kinder, weiter eine enge Beziehung zu beiden Elternteilen zu haben. Wir machen uns Gedanken darüber, wie wir das berücksichtigen und arbeiten daran.

Welt am Sonntag: Ist nicht das eigentliche Problem, dass eine Scheidung nach wie vor das größte Armutsrisiko birgt - auch weil Familien nach der Trennung steuerlich bestraft werden?

Dr. Franziska Giffey: Jede Trennung ist emotional höchst aufgeladen, aber auch finanziell für beide eine hohe Belastung. Deshalb müssen wir sehen, wie wir in ganz unterschiedlichen Rechtsgebieten Steine aus dem Weg räumen können. Im "Starke-Familien-Gesetz" wird künftig zum Beispiel geregelt, dass der Unterhaltsvorschuss nicht mehr voll auf den Kinderzuschlag angerechnet wird. Und wer den Zuschlag bekommt, hat auch Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket und auf einen kostenlosen Kitaplatz. Das können schnell mehrere Hundert Euro im Monat sein. Und das ist dann eine echte Entlastung, die Alleinerziehenden direkt im Portemonnaie zugutekommt.

Welt am Sonntag: Immer häufiger muss der Staat per Unterhaltsvorschuss einspringen. Und immer seltener gelingt es ihm, das vorgestreckte Geld von den Vätern wieder einzutreiben. Was wollen Sie dagegen tun?

Dr. Franziska Giffey: Der Unterhaltsvorschuss wurde 2017 ausgeweitet und wird seitdem auch für Kinder zwischen 12 und 18 Jahren gezahlt. Statt 410.000 haben wir jetzt 780.000 berechtigte Kinder. Eine nahezu Verdopplung der Fallzahlen bedeutete natürlich im letzten Jahr ein außergewöhnlich hohes Antragsvolumen für die Jugendämter. Darüber ist der Rückgriff ins Hintertreffen geraten - was nachvollziehbar ist. Jetzt müssen die Länder und Kommunen das wieder stärker angehen. Aber eines ist dabei sehr wichtig: Wir müssen unterscheiden zwischen zahlungsunwilligen und zahlungsunfähigen Unterhaltspflichtigen. Die Zahlen erheben wir gerade. Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen, heißt es ja. Da ist Rückgriff nicht möglich. Aber wer wirklich zahlungsunwillig ist, muss zur Verantwortung gezogen werden.

Welt am Sonntag: Und wie?

Dr. Franziska Giffey: Wir setzen auf eine bessere Zusammenarbeit mit den Finanzämtern. Die Forderungen müssen wie in anderen Fällen auch durchgesetzt werden. Dazu gibt es die bekannten Mittel. Zudem können Richter auch jetzt schon Nebenstrafen wie Fahrverbote verhängen, wenn es im Einzelfall angemessen ist. Ich finde, es sollten alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Dafür müssen sich die Länder auch um ausreichendes Personal kümmern.

Welt am Sonntag: Laufen Sie sich schon warm für die SPD-Spitzenkandidatur in Berlin? Einige Genossen dort bringen Sie bereits in Stellung …

Dr. Franziska Giffey: Ich mache meinen Job hier. Und zwar das, was jetzt anliegt. First things first.