ZEIT ONLINE Franziska Giffey: "Alle versuchen, ihr Bestes zu geben, auf allen Ebenen."

Franziska Giffey im Gespräch
Franziska Giffey: "Familien benötigen auch nach der Krise noch Urlaubstage für sich."© Ute Grabowsky/photothek.net

ZEIT ONLINE: Frau Giffey, wir treffen uns bei Ihnen im Ministerium. Als Ministerin kann man nicht Homeoffice machen?

Franziska Giffey: Doch, notfalls ginge das. Aber es ist schon ein anderes Arbeiten. Ich bin täglich im Ministerium, auch um Dokumente zu unterschreiben oder Videos aufzuzeichnen, die derzeit persönliche Begegnungen ersetzen müssen. 90 Prozent der Kolleginnen und Kollegen im Ministerium arbeiten derzeit aus dem Homeoffice. Wir haben mittlerweile 97 virtuelle Räume für Schaltkonferenzen, in denen der interne Austausch läuft. Und wir sind so auch im regelmäßigen Kontakt mit anderen Verantwortlichen im Bund, in den Ländern und Kommunen.

ZEIT ONLINE: In Deutschland gilt wegen der Corona-Krise eine weitreichende Kontaktsperre. Viele Eltern fragen sich, ob es richtig ist, wenn ihre Kinder noch Freunde treffen. Gestatten Sie uns eine persönliche Frage: Lassen Sie Ihren zehnjährigen Sohn noch mit anderen Kindern spielen?

Franziska Giffey: Wir haben das sehr eingeschränkt. Mein Sohn telefoniert und chattet mit seinen Freunden, sie spielen zusammen Online-Spiele. Aber Treffen auf dem Spiel- oder Bolzplatz, das geht gerade nicht. Es gibt zum Glück genügend digitale Möglichkeiten, die Eltern und Kinder jetzt nutzen können.

ZEIT ONLINE: Manche Familien bilden eine Art Schicksalsgemeinschaft mit einer anderen befreundeten Familie, damit die Kinder wenigstens noch Spielpartnerinnen und Spielpartner haben. Ist das aus Sicht der Bundesfamilienministerin okay?

Franziska Giffey: Der Kreis soll so klein wie möglich gehalten sein. Deswegen sind die Kitas und die Schulen zu. Jeder muss abwägen, was verantwortungsvoll ist. Im Einzelfall kann das schon möglich sein, dass ein Kind mit dem Nachbarskind spielt, wenn beide Familien sonst sehr wenig Kontakt nach außen haben. Ich verstehe, dass die Situation für viele Familien gerade schwierig ist, aber da müssen wir jetzt durch.

ZEIT ONLINE: Weltärztepräsident Frank Montgomery hat Schulschließungen in manchen Regionen bis zum Ende des Jahres nicht ausgeschlossen. Ist das auch für Sie eine Option?

Franziska Giffey: Ich finde es zu früh, sich jetzt schon festzulegen, wann die Schulen wieder aufmachen. Die Schließungen gelten erstmal bis zum 19. April. Dann sehen wir weiter. Theoretisch ist in dieser Situation ganz viel vorstellbar. Klar ist aber auch: Irgendwie muss das Leben weitergehen. Die Kinder lernen im Homeschooling zwar etwas, aber Eltern können nicht so einfach ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer ersetzen. Dennoch geht das für eine gewisse Zeit. Die sollten wir jetzt erstmal gut meistern.

ZEIT ONLINE: Falls die Zahl der Neuinfektionen es hergibt: Was sollte zuerst wieder geöffnet werden: Schulen und Kitas, Geschäfte, Restaurants?

Franziska Giffey: Das werden wir, die auf allen Ebenen des Landes politische Verantwortung tragen, mit den Expertinnen und Experten besprechen. Bei allen Entscheidungen muss abgewogen werden zwischen den gesundheitlichen, den wirtschaftlichen und den sozialen Folgen. Auf dem Land ist eine Ausgangsbeschränkung beispielsweise nicht so dramatisch, weil viele einen Garten haben, sich trotzdem im Freien bewegen können. Aber man muss eben auch die sozialen Brennpunkte berücksichtigen, wo nicht selten acht Leute in einer Dreizimmerwohnung leben, wo nicht jedes Kind ein eigenes Zimmer, manchmal sogar kein eigenes Bett hat. Die psychologischen Auswirkungen von all dem müssen unbedingt mit betrachtet werden.

ZEIT ONLINE: Gerade Familien mit geringerem Einkommen, die nun auch noch Gehaltseinbußen haben, sollen einfacher den Kinderzuschlag erhalten können. Aber wie erfahren die Leute, dass sie diese staatliche Unterstützung von bis zu 185 Euro pro Kind nun leichter beantragen können?

Franziska Giffey: Wir machen auf allen Kanälen darauf aufmerksam, vor allem bei Social Media weisen wir auf die Homepage www.notfall-kiz.de hin. Die Faustregel lautet: Ein Paar mit zwei Kindern, weniger als 2400 Euro netto Familieneinkommen und mittleren Wohnkosten kann Anspruch auf den Kinderzuschlag haben. Das gilt ganz generell. In der aktuellen Lage betrachten wir nun aber nur das Durchschnittseinkommen des letzten Monats, damit auch Familien, die aktuell wegen der Corona-Krise Einkommenseinbußen haben, einen einfachen Zugang zu der Leistung bekommen können. Immerhin sind das bis zu 185 Euro pro Kind und Monat. Wir gehen von einem großen Anstieg bei den Anträgen bei der Familienkasse aus. Die Sonderregelungen für den Notfall-KiZ gelten bis zum 30. September.

ZEIT ONLINE: Viele Eltern, die wegen der Betreuung ihrer Kinder nun nicht arbeiten können, werden dazu gezwungen Überstunden abzubauen und sogar unbezahlten Urlaub oder ihren Jahresurlaub zunehmen. Ist das in Ordnung?

Franziska Giffey: Wenn Eltern nicht arbeiten können, weil die Kitas oder die Schulen zu sind, dann gewährt das Infektionsschutzgesetz unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch von 67 Prozent des Gehalts analog zum Kurzarbeitergeld: Dafür müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuerst ihre Überstunden abgebaut haben. Das finde ich vertretbar. Manche Länder und Firmen erwarten auch, dass vorher noch der gesamte Jahresurlaub aufgebraucht wird. Das ist aus meiner Sicht kontraproduktiv, denn Familien benötigen auch nach der Krise noch Urlaubstage für sich. Es wäre gut, wenn in allen Bundesländern geregelt würde, dass der Urlaub in diesen Fällen nicht voll aufgebraucht werden muss.

ZEIT ONLINE: Und was ist mit den Arbeitslosen? Selbst die FDP fordert jetzt eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze, weil Hilfsangebote wie das kostenlose Schulessen wegfallen.

Franziska Giffey: Der Bedarf für das Essen ist im Hartz-IV-Regelsatz für Kinder grundsätzlich einberechnet, das müsste also reichen. Aber wir besprechen mit dem Arbeits- und Sozialministerium, wie wir in dieser Ausnahmesituation mit dem Zuschuss für das Schulmittagessen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket umgehen können. Eine generelle Anhebung der Hartz-IV-Sätze befürworte ich nicht. Gerade im Moment sehen wir die vielen Menschen, die trotz schwieriger Lage weiter arbeiten gehen, denken Sie an die Verkäuferinnen im Supermarkt, die Altenpfleger. All diese Menschen müssen mehr haben als Menschen, die nicht arbeiten und deshalb Grundsicherung bekommen. Das Lohnabstandsgebot ist gerade auch jetzt wichtig für den sozialen Frieden im Land.

ZEIT ONLINE: Es besteht die große Sorge, dass durch das Gebot, zu Hause zu bleiben, Gewalt in den Familien zunimmt. Gibt es dafür schon Belege?

Franziska Giffey: Das erwarten die Fachexperten. Und wir stellen fest, dass es bei dem Hilfetelefon "Nummer gegen Kummer" einen Anstieg der Anrufe um mehr als 20 Prozent gibt. Es rufen sowohl mehr Kinder als auch mehr Eltern an. Ein Teil des Zuwachses kann aber auch dadurch begründet sein, dass wir dafür massiv geworben haben. Unser Fokus ist, Hilfestrukturen zu stärken. In der Kinder- und Jugendhilfe geht normalerweise viel über persönliche Rückkopplung, Hausbesuche und so weiter. Das ist im Moment nur eingeschränkt möglich. Deswegen brauchen wir jetzt Telefonberatung, Onlineberatung, Videokonferenzen, Videoberatung und regelmäßige Anrufe in den Familien, in denen es Probleme gibt. Ein Träger in Berlin hat beispielsweise alte Smartphones wieder fit gemacht, mit Prepaidkarten ausgestattet und an die Kinder verteilt, die jetzt nicht mehr in die von ihm angebotene Betreuung kommen können. So können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trotzdem Kontakt zu den Kindern halten. Mir ist außerdem sehr wichtig, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe und in Frauenberatungsstellen jetzt als systemrelevant eingeordnet werden und so ihre Kinder in die Notbetreuung in Kitas und Schulen geben können.

ZEIT ONLINE: Warum ermöglicht man es nicht, dass auch Kinder aus sozial benachteiligten Familien und Kinder, die bereits im Visier des Jugendamtes sind, in die Notbetreuung in den Kitas und Schulhorten gehen können?

Franziska Giffey: Ich sage Ihnen das jetzt mal mit Neuköllner Erfahrung: Wenn Sie alle Kinder in die Notbetreuung aufnehmen würden, die in Deutschland in schwierigen Verhältnissen leben, dann sind das nicht wenige. Diese Kinder leben in engen Wohnungen, jetzt sind auch noch die Spielplätze dicht, sie haben kaum Möglichkeiten, außerhalb der Wohnung Freizeit zu verbringen.
Ob es eine Notbetreuung für all diese Kinder geben sollte, hängt vor allem davon ab, wie lange der Ausnahmezustand noch dauert. Derzeit haben wir eine Schließzeit von fünf Wochen. Das ist solange wie etwa die Sommerferien. Das ist noch vertretbar. Danach muss die Lage neu bewertet werden.

ZEIT ONLINE: Recherchen der ZEIT haben ergeben, dass Jugendämter zu Beginn der Corona-Krise teilweise nicht mehr erreichbar waren. Wurden da Fehler gemacht?

Franziska Giffey: Das kann man so pauschal nicht sagen. Wir haben eine Notlage, für die niemand geübt hat. Aber alle versuchen, ihr Bestes zu geben, auf allen Ebenen. Gerade weil Kinderschutz auch Gesundheitsschutz ist, muss alles getan werden, dass Jugendämter auch unter diesen erschwerten Umständen Kinder und Jugendliche vor Missbrauch und häuslicher Gewalt schützen können. Kinder, die in Jugendgruppen oder betreutem Wohnen leben, müssen dort bleiben können und dürfen nicht in ein Zuhause geschickt werden, das kein wirkliches ist. Wir sind dazu mit den dafür zuständigen Bundesländern im Austausch. Manche Familien benutzen die Corona-Krise vielleicht auch als willkommene Ausrede dafür, um Kontakt zum Jugendamt zu verweigern oder Termine nicht wahrzunehmen. Aber wenn der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung da ist, muss gehandelt werden.

ZEIT ONLINE: Sie fordern leerstehende Hotels für Frauen in Not zu öffnen, weil manche Frauenhäuser wegen der Pandemie einen Aufnahmestopp haben. Welche Rückmeldungen haben Sie bekommen?

Franziska Giffey: Berlin hat bereits zwei leerstehende Hotels für diese Zwecke gebucht und auch andere Bundesländer sind da jetzt sehr pragmatisch. Schleswig-Holstein zum Beispiel oder das Saarland. Und die Stadt Kassel hat kurzerhand zwei Appartements angemietet. Das Modell lässt sich vielleicht auch in der Zeit nach Corona anwenden. Warum sollten Frauen nicht auch dann übergangsweise in Hotelzimmern wohnen können, wenn in den Frauenhäusern gerade kein Platz frei ist?

ZEIT ONLINE: Ihr Haus ist auch zuständig für Senioren. Was halten Sie von Überlegungen, die Kontaktverbote für die Jüngeren und Gesünderen zu lockern und Ältere weiterhin zu isolieren?

Franziska Giffey: Eine Zwei-Klassengesellschaft nach dem Motto "Die einen dürfen raus, die anderen müssen drin bleiben" finde ich schwierig. Welche Altersgrenze will man da festlegen? 65 Jahre? Da werden viele protestieren, weil sie gesund und fit sind. Und auch Jüngere, die ein schwaches Immunsystem haben, können zur Risikogruppe gehören. Jede und jeder ist hier auch künftig in der Pflicht, für sich und andere verantwortungsvoll zu handeln.